Im Dezember 1987 wollten Walter Röösli und Bruno Rechberger erneut eine Reise nach Mexiko unternehmen. Da zu den gewünschten Daten alle vernünftigen Flugverbindungen ausgebucht waren, entschlossen sie sich, die ihnen kaum bekannte Insel Madagaskar zu besuchen. Ein Entschluss mit einer Tragweite, von der die zwei Zürcher noch keine Ahnung hatten. Inzwischen wurden daraus bis heute zweiundzwanzig Flüge auf die rote Insel.
Nach der Ankunft in der Hauptstadt Antananarivo, von Einheimischen kurz Tana genannt, mussten wir feststellen, dass es neben Hotels für Touristen keinerlei weitere Einrichtungen gab. Dank der beherzten Hilfe des Concierge Bosco stand am nächsten Tag ein fabrikneues kleines Mietauto vor dem Hotel Hilton.
Die Fahrt südwärts nach Antsirabe und weiter über die kurvenreiche Strasse nach Fianarantsoa war auf der asphaltierten und mit Schlaglöchern übersäten Route Nationale für das kleine Auto kein Problem.
Richtung Ambalavao wurden die Löcher im Strassenbelag aber immer zahlreicher, bis nur noch eine Piste aus Naturboden für die Weiterfahrt vorhanden war. Das verlangsamte Weiterkommen störte uns keineswegs, führte diese Piste doch durch eine atemberaubende Landschaft, gesäumt von Inselbergen, bewachsenmit einer Fülle sukkulenter Pflanzen.
Das am nächsten Reisetag durchfahrene Isalo war genauso spektakulär. Die bizarr geformten Sandsteinberge, bewachsen mit unzähligen Sukkulenten aller Arten, hinterliessen einen tiefen Eindruck.
Völlig anders und überwältigend zeigte sich die Natur um die am Kanal von Moçambique gelegene Stadt Tulear. Seltsame Gewächse bis zum Horizont bildeten eine ganz eigene Welt. Aber ausser Aloen, Baobab-Bäumen und Euphorbien konnten wir nichts einordnen.
Die Reise führte uns weiter durch den Dornenwald Madagaskars in Richtung der ganz im Südosten gelegenen Stadt Fort Dauphin.
Ich pflegte seit Jahren in Zürich eine Kalanchoe beharensis. Weil Mexiko als Ferienziel ins Wasser gefallen war, machte ich Bruno Rechberger den Vorschlag, den Ort zu besuchen, wo diese Kalanchoe herkommt.
Die sandige Piste Richtung Süden führte uns in eine ganz andere Welt, mehr noch, in eine andere Zeitepoche der Evolution. Das kleine Auto schaffte die Piste erstaunlich gut, einzig die vielen Strahlenschildkröten, die den Weg blockierten, mussten wir immer wieder beiseiteschieben. Und da war sie! Die Kalanchoe beharensis, direkt am Pistenrand neben beeindruckenden Baobab-Bäumen. Das war zwar nicht die Entdeckung von Amerika, aber die Emotion war in diesem Moment nicht kleiner. Über den halben Erdball, quer durch eine Insel, die schon eher ein kleiner Kontinent ist, um dann zu finden, was man im Kopf hatte! Unbeschreiblich.
Wir freuten uns, die Strecke von Fort Dauphin nach Tana zurückzufahren. Kein Dorf, keine Stadt ohne die vielen freundlichen Kinder, Frauen und Männer, welche uns zuwinkten und lautstark zuriefen: «Salu Vazaha!» B Ambassadeure für Madagaskar. Zurück in Tana fragten wir im Ministerium Eaux et Forêt, ob die Möglichkeit bestünde, Pflanzen zu erwerben und in die Schweiz auszuführen. Die freundliche Hilfe des Ministeriums führte uns zu Alfred Razafindratsira. Nach längerem Gespräch sagte dieser zu, eine interessante Zusammenstellung von sukkulenten
Pflanzen mit den notwendigen Papieren bereitzustellen
Seine Abschiedsbemerkung an uns war: Die Pflanzen, welche wir in die Schweiz mitnähmen, seien die besten Ambassadeure für Madagaskar.
Zu Hause gediehen die Pflanzen wunderbar, was bei uns den Wunsch weckte, weitere Gebiete der Insel zu besuchen. Ende November 1988 machte uns Alfred in Tana den Vorschlag: Sammelt die Pflanzen, die euch interessieren, selber. Wenn ihr schon durch das Land reist, ist das doch eine gute Gelegenheit. Ausgestattet mit einer Sammelerlaubnis machten wir uns auf den Weg in den Norden. Von der Erlaubnis ausgenommen waren die Naturschutzgebiete.
Beim Begutachten der von uns zusammengesuchten
Pflanzen war die Zufriedenheit auf madagassischer Seite deutlich sichtbar. Da lagen nicht nur interessante Gewächse, offenbar waren auch unbekannte Arten dabei. Das Feuer war gelegt! Für die folgenden Jahre dehnten wir die Reisezeit
auf acht Wochen aus, bis Bruno Rechberger 1992 aus
beruflichen Gründen auf weitere Exkursionen verzichten
musste. Ralph Hoffmann hatte inzwischen seine Ausbildung in Frankreich erfolgreich abgeschlossen, und ihn interessierte eine neue Erfahrung. Ende Oktober 1992 flogen wir zwei nach Madagaskar, diesmal für zehn Wochen.
Start des Vermehrungsprojekts. Mit Ralph Hoffmann stand mir jetzt ein Pflanzenfachmann zur Seite, was auch in Tana sofort bemerkt wurde.
Schnell trug man die Bitte an uns, die gefundenen Pflanzen möglichst zahlreich in Zürich zu vermehren. Dazu erhielten wir eine verständliche Begründung: Pflanzen, die aus Madagaskar exportiert werden, müssen auf der Nordhälfte des Planeten um sechs Monate in der Wachstumsphase umkultiviert werden, was leider oft nicht gelingt.
Die Madagassen finden, dass unser Taschenmesser (couteau suisse) ein guter Werbeträger für die Schweiz sei. Für Madagaskar könnten Jungpflanzen, welche nur auf dieser Insel vorkommen, diese Auf gabe übernehmen.
Sie müssten in möglichst grosser Stückzahl nach Japan, Europa und Amerika verteilt werden und dem nördlichen Wachstumsrhythmus angepasst sein.
Dank Ralphs Fachwissen gestaltete sich das Vermehrungsprojekt sehr erfolgreich, und mit jeder neuenReise wurde unsere Sammlung artenreicher und grösser. Jahr für Jahr besuchten wir auf Madagaskar immer abgelegenere Gebiete, unsere Ziele wurden immer extremer. Es gab keine Rückkehr in die Schweiz ohne neue Arten und reichlich Herbarmaterial im Gepäck.
Die Eröffnung der Masoalahalle im Zoo Zürich wirkte sich auch auf Madagaskar aus. Die Zahl der Nationalparkbesucher vervielfachte sich, was mitunter möglicherweise eine Schutzstrategie für die Natur auf der Insel sein könnte. Auch in den hintersten Buschdörfern erzählten uns die Einheimischen voller Stolz von ihrem grossen Haus in der Schweiz.
Der Madagaskarforscher Henri Humbert (1887 – 1967) bemerkte in seiner Arbeit «Pédaliacées»C, dass er eine Uncarina aus dem Androna-Gebiet wegen der Unvollständigkeit des Herbarmateriales nicht richtig einordnen konnte. Für Ralph und mich war das ein Ansporn, diese Pflanze im wenig bekannten, rund 12 000 Quadrat-kilometer grossen Gebiet zu suchen. Im Städt chen Mandritsara gibt es ein kleines einfaches Hotel, in welches wir im November 1995 einzogen. Auf der Marktstrasse mischten wir uns unter die zahlreichen Menschen und suchten möglichst viele Gespräche, um unser Anliegen mitzuteilen. Madagassen sind sehr redselig, und so machte der Grund für die Anwesenheit von zwei Vazahas schnell die Runde.
Am Abend meldete sich ein junger Mann im Hotel, er wolle uns sprechen. Überzeugt erklärte er uns, er wisse, wo man diese Pflanze mit den auffälligen Früchten voller Hakenstacheln finden könne, allerdings sei es ziemlich weit weg von Mandritsara.
Am 20. November frühmorgens, es war noch dunkel, brachen wir zusammen mit unserem Begleiter auf. Wir fuhren durch eine Märchenlandschaft, ein Dorf nach dem andern, die Häuser aus rotem Lehm gebaut und mit Stroh überdacht, mit Arbeiten beschäftigte Frauen, viele Kinder, träge herumliegende Hunde, Schweine und aufgescheucht herumrennende Hühner belebten die kleinen, sauber gepflegten Siedlungen, die sich zwischen die 50 bis 100 Meter
aufragenden Felsformationen unter tiefblauem Himmel einbetteten.
Gegen Mittag liess uns unser Begleiter ostwärts abbiegen, und auf einem Fussweg fuhren wir durch ein schmales Tal, gesäumt von beeindruckenden Gneisbergen. Bei einer kleinen Häusergruppe stiegen wir aus. Wir befanden uns auf einer Höhe von 350 Metern, exakt das Niveau, auf dem in Diego-Suarez die höchst gelegene Population von Uncarina peltata wächst. Alle anderen Arten dieser Gattung findet man in tieferen Lagen. Drei kleine junge Männer, für Madagassen mit ungewöhnlich kräftiger Statur, waren bereit,
uns zu den gesuchten Pflanzen zu führen. Ralph fragte, ob es weit sei. Eine verneinende Kopfbewegung und ein kurzes Armheben in Richtung eines nahe gelegenen Wäldchens war die Antwort. Ralph meinte zu mir: «Super, wir brauchen nur die Fotoausrüstung!»
Das Wäldchen lag ein gutes Stück hinter uns, als wir auf einen schmalen Fusspfad trafen, der sehr steil den Berg hinaufführte. Das felsige abschüssige Gelände, spärlich bewachsen mit trockenem Gras und zahlreichen Pflanzen von Pachypodium baronii, die wie hingestellte Skulpturen aus dem Berghang ragten, flimmerte in der Nachmittagshitze.
Eine gefühlte Ewigkeit kämpften wir uns bergwärts, völlig durchgeschwitzt und an der Grenze unserer Kräfte, mussten wir immer öfter eine Pause einlegen.
Auch unsere vier Begleiter schwitzten, die Anstrengung aber meisterten sie problemlos. Bei Ralph und mir kamen Zweifel auf. Ich sagte zu ihm: «Uncarinas werden wir in dieser Höhe kaum finden, aber bestimmt werden wir diesen Tag nie vergessen.»
Völlig erschöpft und dehydriert schafften wir es auf den Berg, der Höhenmesser zeigte 950 Meter an.
Wir durchquerten einen laublosen Buschwald, bis einer unserer Begleiter in eine Richtung zeigte. Unglaublich, ein leuchtend gelbes Band durchbrach die graubraune Vegetation. Wir eilten zu diesem Platz, bewachsen mit unzähligen blühenden Uncarinas von einer Art, die wir zuvor noch nie gesehen hatten.
Unsere Erschöpfung hatte ein gefährliches Mass erreicht. Am Boden liegend, mit Flimmern in den Augen, kramte ich nach meiner Leica und versuchte ein paar Bilder zu machen. Das gab nichts Brauchbares.
Unsere Begleiter knieten etwas abseits am Boden und tranken tüchtig aus einem Wasserloch. Ralph sagte zu mir: «Wir müssen auch trinken, sonst schaffen wir es nicht zurück.» Das von alten Blättern gefärbte und mit Tausenden Wassertierchen belebte Wasser tat uns gut. Schnell war unser Jagdfieber wieder geweckt. Die Kamera klickte, die Madagassen gruben Pflanzen aus, Ralph sammelte Herbarmaterial.
Zurück beim Auto war in der Gruppe die Zufriedenheit spürbar. Den zwei Vazahas geholfen zu haben, machte die Begleiter stolz. Ralph und ich genossen das unbeschreibliche Gefühl erfolgreicher Jäger. Ein glücklicher Tag für alle. Die Rückfahrt ging durch die Nacht, bis wir um zwei Uhr früh im schlafenden Mandritsara ankamen.
Im November 1996 fanden wir weitere Vorkommen dieser Berg-Uncarina, worauf unser geschätzter Freund John J. Lavranos das Material bearbeitete.
Zu Ehren des bekannten Pedaliaceen-Spezialisten Prof. Dr. H.-D. Ihlenfeldt gab er der neuen Art den wissenschaftlichen
Namen Uncarina ihlenfeldtiana.
Verhängnisvoller Wolkenbruch
Am 18. November 1997 verbrachten wir in unserer Unterkunft in Morondava eine beinahe schlaflose Nacht.
Eine höllische Gewitterfront entlud sich draussen über dem Kanal von Moçambique, mit Donnerschlag vergleichbar einer Kanonenschlacht. Wir bangten um unsere Weiterfahrt Richtung Manja. Wenige Kilometer südlich der Stadt quert die Piste den Kabatomena-Fluss, bei Hochwasser ist er nicht durchfahrbar. Zu unserer Freude war am frühen Morgen der Wasserstand nicht zu hoch, so dass wir mit unserem Isuzu
4 × 4 den breiten Fluss durchfahren konnten. Eine einzigartige Strecke in Madagaskar lag vor uns. Die Piste führt über grosse Distanzen immer wieder schnurgerade
durch topfebenen Trockenwald, unterbrochen von weitem mit Didierea madagascariensis bewachsenen Schwemm land.
Bis Manja sind mehrere Flüsse zu überwinden, keiner machte uns Probleme. Gegen 17 Uhr, gut 60 Pistenkilometer vor Manja, kamen wir an den Lampaolo-Fluss. «Das sieht nicht gut aus», sagte ich zu Ralph, der nachdenklich auf das schnell fliessende Wasser schaute. Drei herbeigeeilte Männer des Sakalava-Stammes gestikulierten wild. Ralph verstand mit seinen madagassischen Sprachkenntnissen, dass wir den Fluss sofort durchqueren sollten, da das Wasser am Steigen sei und wir sonst lange hier stecken bleiben würden.
Mit ungutem Gefühl bat ich um mehr Männer, um den Wagen zu schieben. Schnell reihten sich zehn Sakalavas
hinter und seitlich des Fahrzeugs auf, und Ralph rief: «Los!». Am Steuer spürte ich deutlich die Kraft des Wassers – und dann sackte das rechte Vorderrad in eine Mulde, und der Isuku blieb stecken. Ralph rief: «Wir müssen zurück!» Er sprang ins Wasser, gab Anweisungen. Gleichzeitig setzte heftigster Regen ein, der alles verdunkelte, die Scheiben-wischer rasten auf Stufe drei, beim Aufzucken der Blitze sah
ich gespenstisch kurz die verängstigten Gesichter der
Einheimischen.
Meine Füsse auf den Pedalen waren unter Wasser, ich schrie so laut ich konnte: «Ralph, hebt das Auto, wir sinken ein.» Er konnte mich nicht verstehen, das reissende Wasser, der niederprasselnde Regen auf die Frontscheibe und das Dach und dazu Donner ohne Unterbruch machten eine Verständi-gung unmöglich. Der Wagen machte keinen Wank. Ralph kam heftig gestikulierend zum offenen Fenster: «Das Wasser steigt!»
Da sass ich bereits bis zur Hüfte in der braunen Brühe.
Die Kühlerhaube verschwand in den Wogen, alle Warnlichter der Armatur leuchteten. Motor abstellen und raus, die fahrerseitige Tür konnte ich gegen den Wasserlauf nicht öffnen, dies gelang Ralph auf der rechten Seite, dazu schrie er: «Raus mit dem Gepäck!» Zwei Madagassen packten unsere Schalenkoffer, nahmen sie auf den Kopf und kämpften sich uferwärts, die nächsten griffen nach den Proviantschachteln, die sofort durchbrachen, und unsere Konserven und Biskuits verschwanden im trüben Nass. Das Bergen der Wasserflaschen gelang, die Fotoausrüstung, für Pistenfahrten immer staubdicht eingepackt, konnten wir ebenfalls retten. Kaum am Ufer, verschwanden alle Sakalavas wie vom Boden verschluckt; Ralph und ich sahen zurück zu unserem Auto, auch das war verschwunden.
Schnell brach die Nacht mitstarkem Wind herein. Völlig
durchnässt und ohne etwas zum Essen froren wir bis zum
Morgen, neben uns die wassergefüllten Koffer. Trotzdem
waren wir gut gelaunt.
Während der folgenden Tage kamen immer mehr in bunte Tücher gehüllte Waldbewohner und setzten sich im Halb-kreis um uns. Sie starrten uns an, als sähen sie einen spannenden Film. Die Szenerie war fast surreal, aber keineswegs peinlich, und gekochten Reis bekamen wir auch.
Am dritten Tag kam ein Ismailit und bot uns die Mitfahrt nach Manja in seinem Lastwagen an, sobald der Wasserstand des Lampaolo das ermöglichen würde.
Am vierten Tag sank der Wasserpegel stetig; und um 15 Uhr wurde eine grosse Herde Zeburinder durch das Wasser getrieben, die mit ihren Hufen das Flussbett befahrbar machten. Unser neuer Freund Roger Piaraly beherbergte uns in Manja, bis uns ein Lastwagen in einer 28-stündigen abenteuerlichen Nonstop-Fahrt nach Tulear mitnehmen konnte. Im darauffolgenden Jahr begaben wir uns zusammen mit Roger erneut an den Lampaolo, um unseren
Isuzu auszugraben. Das Auto lag unter einer Sandbank, der Flusslauf hatte sich zwischenzeitlich um 30 Meter nordwärts verschoben. 35 Männer aus der Gegend schufteten drei Tage, bis unser Auto aus über drei Meter tiefem Sand geborgen und auf Rogers Lastwagen verladen werden konnte.
text und fotos: Walter Röösli